Tobea - Martina Witt

Dolmetscher für die Seele

Hast du manchmal Angst „verrückt“ zu werden?



Diese Frage ist einer der wichtigsten Fragen, die ich mir immer wieder stelle und mich auch immer wieder dahingegen kontrolliere.

Ich erinnere mich noch genau an meine erste bewusste Begegnung mit der Anderswelt. Mein Vater war Lokführer. Als ich noch sehr klein war, fuhr er schwere Dampfloks. Eines Abends kam er vom Dienst nach Hause und an seiner Seite war eine schwer verletzte „Frau“. Ich sah sie wie ein Hologramm, so wie ich eben Seelen sehe. Ich fragte meinen Vater, wer diese Frau sei, aber meine Eltern fanden die Frage natürlich nur blöd. Dann aber erzählte mein Vater, dass er auf seiner Fahrt einen Menschen überfahren hatte. Bei so großen Lokomotiven und besonders nachts kam das leider öfter vor. Erst im nächsten Bahnhof sah man, dass da etwas nicht stimmte. Mein Vater hatte die Seele dieser Frau mit nach Hause gebracht und ich sah sie.

Diese Art des Sehens war für mich ganz normal und machte mir auch keine Angst. Die anderen Kinder mochten damals jedoch nicht mit mir spielen. Erst Jahre später erzählten sie mir, dass ich immer so geguckt hätte, als wenn ich durch sie hindurchsehe oder ihre Gedanken lese. Ja, habe ich, kann ich, aber das war für mich das Normalste der Welt. Ich dachte, dass das alle können, und habe erst viel später erfahren, dass das nicht so ist. Die „es gehört sich nicht“-Menschen taten alles, um mich auf ihren, anscheinend richtigen Weg zu bringen. Tatsächlich hat genau das mich eher verrückt gemacht als meine schamanische Arbeit. Weil ich nicht wusste, wie ich zu sein hatte, habe ich als junger Mensch immer wieder Rollen gespielt und mich angepasst. Dadurch wurde der Quatsch immer quätscher, ich verlor meine Seele und meine Authentizität. Ich war stets in irgendwelchen Katastrophen oder Krankheiten unterwegs. Unterm Strich – ich war nicht tot und nicht lebendig und im wahrsten Sinne des Wortes „ver-rückt“. So wie man einen Stuhl von links nach rechts verrückt, war meine Seele nicht bei mir, sondern irgendwo.

Ich erfuhr eine große Palette von psychologischen und psychiatrischen Heilkünsten, aber sie halfen mir immer nur für eine kurze Weile. Schließlich fand mich das Buch von Sandra Ingermann „Auf der Suche nach der verlorenen Seele“, damit begann mein Weg. Ich begegnete einer Schamanin, dann weiteren Schamanen und fand schließlich auf einem langen Weg all meine Seelenanteile und MEIN Leben.

Schamanen sind Teilzeitverrückte. Sie leben in der alltäglichen Wirklichkeit und gehen in die nicht alltägliche Wirklichkeit, um für ihre Klienten die notwendigen Utensilien für ihr Weiterleben zu holen, zum Beispiel Seelenanteile und Werkzeuge für die Heilung, oder sie ändern Programmierungen. Inzwischen bin ich weit über 6000-mal in der nicht alltäglichen Welt gewesen. Dort finde ich mich fast besser zurecht als hier. Ich musste oft aufpassen, nicht drüben zu bleiben und dass ich immer wieder an meinen Platz in dieser Welt zurückkomme. Die Anderswelt ist sehr verlockend, kann aber auch tödlich sein.

Ich habe eine solide Ausbildung bei der „Foundation for Shamanic Studies“ erhalten. Bei meinem ersten Einführungsseminar stellte Paul Uccusic uns das wichtigste Lehrmaterial für unseren Weg vor, das Buch von Michael Harner, dem Begründer der Foundation. Harner entwickelte den Core-Schamanismus, den Kernschamanismus, aus all den schamanischen Traditionen, denen er in den Jahren seiner Arbeit begegnete. So revolutionierte er den Schamanismus für die moderne Welt im Hier und Jetzt. Im Seminar gab es einen Lichtbildervortrag über Harners Forschungsreisen zu den Urschamanen auf der ganzen Welt. Es war auch ein Bild von dem Schamanen dabei, den er in seinem Buch beschreibt.

«Die Wirklichkeit des Schamanen – Ein Wegweiser in verborgene Welten und Bewusstseinsräume», Michael Harner, 2016, Heyne, Seite 58

Kurz nachdem ich bei den Shuar eingetroffen war, fiel mir ein Mann auf, der bei Tag und Nacht durch den Wald streifte, Geister sah und sich mit ihnen unterhielt. Dem Elfenbeinturm der Universität frisch entkommen, dachte ich sofort: Ha! Hab ich dich! Also fragte ich die Leute, ob es sich bei diesem Mann vielleicht um einen Schamanen handele. Aber nein, antworteten sie, der ist nur verrückt!
Sie hielten ihn zwar für verrückt, meinten aber nicht, dass ihn Halluzinationen umtrieben. Schließlich hatten in dieser Gesellschaft fast alle schon die heimischen halluzinogenen Pflanzen zu sich genommen und wussten, dass es Geister wirklich gibt, weil ihnen ja auch schon welche erschienen waren.
Den Mann, nach dem ich mich erkundigt hatte, hielten sie deshalb für verrückt, weil er nicht in der Lage war, den Kontakt mit den Geistern wieder abzubrechen. Aus diesem Grund nutzte er den Menschen auch nichts. Ihre Schamanen dagegen gingen gänzlich bewusst vor, wenn sie mit Geistern zu tun haben wollten, und sie taten dies mit der erklärten Absicht, anderen zu helfen. Dies war meine erste wirkliche Lektion in Schamanismus.


Dieses Bild hat sich in meinem Kopf als ein großes Poster abgespeichert und erinnert mich stets daran, sehr diszipliniert zu sein und auf mich aufzupassen. Als gelernte Herrenmaßschneiderin und Diplom-Ingenieurin für Bekleidungstechnologie stehe ich sehr bodenständig im täglichen Leben. Ich gehe als Schamanin in die Anderswelt, wie ich früher in die Fabrik ging, und mache meinen Job mit der handwerklichen und analytischen Herangehensweise des Technologen. Diese Klarheit sorgt dafür, dass ich nicht dauerhaft verrücke.